Mit der in Niedersachsen entwickelten Kampagne "Hast du das auch gehört?" soll gezielt eine aufmerksame Nachbarschaft aktiviert werden, die bei möglichen familiären Problemen im Umfeld reagieren kann.
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Das eigene Zuhause ist für viele nicht immer ein sicherer Ort. Vor allem in Zeiten des Lockdown und der Herausforderungen durch die Corona Pandemie gehen Expertinnen und Experten davon aus, dass Gewalt in den Familien zunimmt. Mit der Kampagne „Hast du das auch gehört?“ wollen sich die Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Pforzheim und des Enzkreises, Susanne Brückner und Kinga Golomb, dieser sich verschärfenden Problematik nähern und gezielt Nachbarschaft informieren. „Denn die Betroffenen haben nicht immer die Möglichkeit eigenständig Hilfe zu suchen“, erklären die beiden Gleichstellungsbeauftragten, „es ist wichtig aufmerksame Nachbarinnen und Nachbarn zu haben, die in Notsituationen helfen können. Aber auch präventiv soll unsere Kampagne wirken.“
Unter dem Motto „Eine aufmerksame Nachbarschaft ist die beste Prävention“ weist die Kampagne mit Postkarten und Plakaten auf die Herausforderungen häuslicher Gewalt hin und zeigt auf, wie die Nachbarschaft aktiv unterstützen kann. So gibt es je nach Situation verschiedene Handlungsoptionen, die aufmerksamen Nachbarinnen und Nachbarn dabei helfen sollen, entsprechend zu intervenieren. Ob Schreie, Weinen oder Gepolter – wichtig ist, sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Zur Gefahreneinschätzung ist es sinnvoll sich mit anderen auszutauschen. „Hast du das auch gehört?“ ist sozusagen der Anfang der nachbarschaftlichen Solidarität.
Im nächsten Schritt sollte man nach Gelegenheiten suchen, die betroffene Person allein anzusprechen und sich nach dem Wohlbefinden zu erkundigen. „Man kann auch unter einem anderen Vorwand klingeln und seine Hilfe anbieten“, so Susanne Brückner. Wenn aber eine Konfliktsituation zu bedrohlich sein sollte, empfiehlt sich ein Anruf bei der Polizei oder dem Hilfetelefon. „Beide Optionen können anonym kontaktiert werden“, sagt Kinga Golomb. Man müsse sich also nicht sorgen, dass die Informationen einem zugeordnet werden können und so ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis gestört würde.
Einschränkungen in der Corona-Krise steigert häusliche Gewalt
Bereits jetzt zeichnet es sich ab, dass die häusliche Gewalt unter den Restriktionen der Corona-Pandemie zunimmt. Familien, die auf engem Raum zusammenleben, durch Homeoffice oder Kurzarbeit mehr Zeit zuhause verbringen als üblich, dabei von Zukunftsängsten durch finanzielle Einbußen geplagt sind und gleichzeitig noch die Kinderbetreuung leisten, sind in mehrfacher Hinsicht belastet. All das kann dazu führen, dass Gewalt in der Partnerschaft oder auch gegenüber den Kindern steigt, kurzum: die Hemmschwelle bei häuslicher Gewalt sinkt.
Seit dem Lockdown hat das Ökumenische Frauenhaus im Vergleichszeitraum Mitte März bis Ende Mai 2020 mehr Anfragen nach freien Unterbringungskapazitäten für schutzbedürftige Frauen verzeichnet als im Vergleich zu den Vorjahren. Auch allgemeine Beratungsgespräche darüber, wie z.B. Aufnahmen in Zeiten von Corona ablaufen, haben laut Tanja Göldner, Leiterin des Frauenhauses, zugenommen. Diese stammen oftmals aber nicht von den Betroffenen selbst, sondern von anderen Facheinrichtungen, aus der Nachbarschaft und dem Freundeskreis.
Ähnlich sind auch die Erfahrungen der Polizei. Die Polizei verzeichnet zwar keinen Anstieg der Fälle häuslicher Gewalt, der auf die Corona-Umstände zurückzuführen ist, betont aber, dass viele Hinweise auf Verdachtsfälle aus der Nachbarschaft kommen und wachsame Augen und Ohren daher besonders wichtig für die Polizeiarbeit seien, so Herr Wagner, von der Stabstelle Öffentlichkeitsarbeit des Polizeipräsidiums Pforzheim.
Stadt Pforzheim – Zahlen, Fakten, Einschätzungen
- Das Amt für öffentliche Ordnung der Stadt Pforzheim verzeichnet für den Vergleichszeitraum 17.3. – 20.5. mit 23 Fällen in 2020 eine deutliche Steigerung der Fallzahlen im Bereich der häuslichen Gewalt im Vergleich zu den Vorjahren (2018: 8 Fälle/2019: 13 Fälle).
- Das Jugendamt der Stadt Pforzheim verzeichnet insgesamt für den Zeitraum 17.3. – 17.5. folgende Zahlen von Neueingängen bei der Abklärung von Kindeswohlgefährdung: 2020: 78 Kinder in 47 Familien (2019: 52 Kinder in 33 Familien). Davon im Kontext häuslicher Gewalt: 2020: 28 Kinder in 21 Familien (2019: 9 Kinder in 4 Familien).
2020 gab es deutliche Steigerungen im Vergleich der beiden Zeiträume. Bis ca. Mitte April 2020 war zunächst nur eine geringe Steigerung festzustellen, was sich dann aber änderte. „Es darf vermutet werden, dass dies einerseits an der Dauer der corona-bedingten Maßnahmen lag, es andererseits aber zu häufigeren Mitteilungen aus der Nachbarschaft kam, aufgrund gestiegener Aufmerksamkeit. In vielen Medien wurde zur Thematik berichtet und auf die vermutete Dunkelziffer hingewiesen“, so der Leiter des städtischen Jugendamts, Uwe Jung-Pätzold.
Quelle(n): pm