Kriminologe Professor Dr. Jörg Kinzig setzt mit seinem Vortrag das Studium Generale fort. (Lesezeit: 6 Minuten)
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Immer weniger Straftaten, steigende Aufklärungsquoten und kaum schwere Verbrechen – bei seinem Vortrag „Die Kriminalitätsentwicklung in Deutschland: Von realen Fakten und gefühlten Wahrnehmungen“ hat Professor Dr. Jörg Kinzig, Leiter des Instituts für Kriminologie an der Universität Tübingen, beim Studium Generale an der Hochschule Pforzheim vor allem gute Nachrichten. Die neuesten Zahlen der Kriminalstatistiken in Bund, Land, aber auch im Wirkungsbereich des Polizeipräsidiums Pforzheim, sprechen eine klare Sprache. Doch wahrgenommen wird die Kriminalitätsentwicklung in der Bevölkerung häufig anders.
„Verfolgt man die Diskussion in den Medien, könnte man meinen, dass die Kriminalität immer gravierenderer wird“, führte Professor Dr. Frauke Sander, die gemeinsam mit Professor Dr. Christa Wehner die wissenschaftliche Leitung des Studium Generale innehat, in das hochemotionale Thema ein. Im Spannungsfeld zwischen Faszination und Angst löst Kriminalität bei den meisten Menschen starke Gefühle aus. „Was uns interessiert, sind Sex und Crime, schwere Straftaten – daher rührt auch die Attraktivität des Tatorts.“ Auch wagte Jörg Kinzig einen Erklärungsversuch dafür, dass viele Menschen den Eindruck haben, das Leben in Deutschland sei weitaus gefährlicher, als es tatsächlich ist. „Wenn Sie permanent mit Gewalt in den Medien konfrontiert werden, löst das etwas aus“, so der Kriminologe.
Dass diese Ängste sachlich oft unbegründet sind, belegte Jörg Kinzig anhand zahlreicher Kriminalstatistiken. Für Deutschland ist die Zahl der Straftaten laut der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts von 2016 bis 2020 um rund eine Million Fälle, von 6,3 Millionen auf 5,3 Millionen, gesunken. Auch die Zahl der Straftaten pro 100.000 Einwohner – die sogenannte Häufigkeitsziffer (HZ) – ging zwischen 2015 und 2020 von rund 7800 auf 6400 zurück. „Das ist die niedrigste Häufigkeitsziffer, seit wir eine gesamtdeutsche Statistik, also seit Ende der 1980er-Jahre, haben“, so Professor Kinzig. Gleichzeitig steigen die Aufklärungsquoten der Polizei und lagen deutschlandweit zuletzt bei 58,4 Prozent.
Ähnliche Entwicklungen verzeichne man in Baden-Württemberg, wo 2020 mit 156,6 Fällen pro 100.000 Einwohnern nach Bayern die zweitniedrigste Gewaltkriminalität in Deutschland herrschte. Etwas anders stellt sich das mit einem Wachstum um 6,7 Prozentpunkte im Wirkungsbereich des Polizeipräsidiums Pforzheim dar, das im Land mit einer Häufigkeitsziffer von 4018 jedoch Rang vier unter den Präsidien in Baden-Württemberg belegt und weit unter dem Landesschnitt von 4852 liegt. Grund für die Anstiege in Pforzheim insgesamt, so Kinzig, seien laut Auskunft des hiesigen Polizeipräsidiums aber „reform- und umstellungsbedingte Verzögerungen bei der statistischen Erfassung“. Zum 1. Januar 2020 hatte Pforzheim, nachdem die Zuständigkeit zuvor in Karlsruhe lag, sein eigenes Präsidium Nordschwarzwald für die Bereiche Pforzheim, Enzkreis sowie den Landkreisen Calw und Freudenstadt, bekommen.
Interpretation von Zahlen erforderlich
Davor, diese Zahlen als die ganze Wahrheit zu nehmen, warnte er jedoch. „Diese Statistik zeigt nur das Hellfeld, also die Straftaten, die den Strafverfolgungsbehörden bekannt sind“, schränkte der Jurist deren Aussagekraft ein. Entsprechend vorsichtig müssten sie interpretiert werden. Auch um Kuriositäten zu verstehen, müsse man hinter die Statistik schauen: Dass Baden-Baden 2020 zu den kriminellsten Stadtkreisen Baden-Württembergs zählte, liege schlicht daran, dass einer Anwältin und ihrem Mann Betrug in 1665 Fällen vorgeworfen wird und der beschauliche Kurort statistisch betrachtet aussieht, als sei er „Soddom und Gomorrha“, so Jörg Kinzig.
Vor diesem Hintergrund sei es sinnvoll, die Hellfeld-Statistiken um Dunkelfeld-Untersuchungen in Form von Opfer- und Sicherheitsgefühl-Befragungen sowie Anzeigequoten zu ergänzen, die zum Bedauern des Kriminologen nicht ansatzweise so häufig erstellt würden wie Hellfeld-Statistiken. Der letzte bundesweite Viktimisierungs-Survey von 2017 ergab, dass vor allem junge Männer zwischen 16 und 24 Jahren Opfer von Körperverletzungen werden. „Insgesamt sind Frauen bei allen in der Umfrage aufgeführten Straftaten weniger belastet als die Männer. Sie verüben weniger Straftaten – nur fünf Prozent der Gefängnisinsassen sind weiblich –, und sie werden seltener zu Opfern.“ Doch nicht nur das Geschlecht, sondern auch das Alter spielt eine Rolle: Statistisch gesehen nimmt mit zunehmendem Alter die Gefahr, Opfer zu werden, deutlich ab.
Doch was sagt das Gefühl? In Pforzheim wurde dies anhand eines Sicherheits-Audits basierend auf Umfragen im September 2019 erhoben. Dieser ergab, dass sich rund ein Fünftel der Befragten unsicher fühlte. Eine bundesweite Umfrage der R&V-Versicherung kam mit 18 Prozent einem ähnlichen Wert. Zugleich liegt aber die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, nur auf Platz 21 von 22 Antwortvorgaben. Zuletzt waren diese Werte zwar wieder angestiegen. 1992 war dieser Wert mit 40 Prozent noch etwa doppelt so hoch wie heute. Generell fürchten sich Frauen mehr als Männer, die Menschen im Osten der Republik eher als jene im Westen, und mit zunehmendem Alter steigt die Angst an.
Mit zahlreichen Fragen, darunter einige aus dem Publikum, das den Vortrag abermals im Live-Stream verfolgte, endete der zweite Vortrag des Studium Generale an der Hochschule Pforzheim im Sommersemester 2021. Der Vortrag von Professor Dr. Jörg Kinzig ist noch bis 18. Mai unter https://www.youtube.com/watch?v=zvqTdKsp5fs abrufbar.