Gaudeamus igitur!

Reflektion am Piazza del Popolo in Rom (Foto: Gabriella Clare via Unsplash)

Leben in einer absoluten, historischen Ausnahmeerscheinung. Kein Grund, nicht fröhlich zu sein, so Jeff S. Klotz in einem Gastbeitrag.

(Lesezeit: 4 Minuten)

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Ein Gastbeitrag von Jeff S. Klotz.

Kein Tag, an dem nicht der Niedergang prophezeit wird. Die Gesellschaft verrohe, die Sitten verfielen, der Umgangston werde rauer, die Gesellschaft werde weniger gebildet, das Lesen gehe zurück, klassische Musik werde weniger gehört, die Oper in 20 Jahren nicht mehr besucht, der Einzelhandel sterbe, das echte Gespräch werde seltener geführt, das Handy verrohe unsere Sprache, das Fernsehen habe kein gutes Programm, die Politik sei unfähig.

Mit Verlaub, ich kann es nicht mehr hören. Ja, jede Gesellschaft hat beträchtliche Herausforderungen, wichtige Fragen der Chancen und Zugänge, der Bildung und Daseinsfürsorge sind zu beantworten. Aber: Wenn jeder, der mir täglich den Niedergang prognostiziert, diese Zeit nutzt, um in der Tafel zu helfen, in die Politik zu gehen, einen Vereins- oder Verbandsvorsitz zu übernehmen, aktiv sich mal den neuen Nachbarn im Viertel vorzustellen (vor allem und gerade, wenn sie von weiter her kommen), sich einzubringen, egal, wo es gerade benötigt wird – dann ist uns mehr geholfen. Werte fordert man nicht ein, man lebt sie vor!!

Man verzeihe mir diese Hausmannskost-Philosophie, aber Werte muss man vorleben, in Taten ummünzen und ab einer kritischen Masse werden sie in der Folge wahrgenommen und strahlen aus. Jeden Abend am Esstisch den Zustand des 4. Jahrhunderts von Rom vor sich bildlich zu erahnen, ist so dermaßen skurril, vor allem, wenn ich persönlich bedenke, dass Teile meiner Vorfahren, vor über 70 Jahren schlichtweg alles verloren haben und trotzdem weitermachten. Nun eine überhöhte Vergangenheit zu glorifizieren, in der man mit 46 an Blinddarmentzündung starb, den eigenen Fabrikanten nie, ich betone nie, persönlich traf, den Bürgermeister um Ausreise bitten musste, man Wagner wurde, weil es der Vater auch wurde, oder die Frau quasi durch den Mann mit wählen durfte, ist so eine Absurdität unserer Zeit, dass es mir die Sprache verschlägt. Welches Jahrzehnt genau entspricht denn dem Bild, das man gerne hätte? Ich kann es auch nicht mehr hören.

Wir leben in einer Gesellschaft, wie es sie noch nie gegeben hat, in der Menschen versorgt werden, eine starke Wertschöpfung das auch ermöglicht, jeder – auch die Unberufenen – natürlich sagen dürfen, was sie glauben und was die Menschheit aus ihrer Sicht wissen soll. Wir leben in einer Zeit, in der „zu viel von allem“ unser Problem ist, in der das Übergewicht von Jung und Alt unsere Sorge ist und ob Online-Dienstleister innerhalb von 24 Stunden liefern und meine Gutscheine nicht ablaufen. Wir leben in einer absoluten, historischen Ausnahmeerscheinung und -zeit. In jeder Hinsicht!! In jeder!

Demut, Dankbarkeit und das tägliche Tun, dass dies so bleibt, wäre die Antwort. Die einzig drängende Frage ist, wie wir durch unser täglich Tun, dieses Gemeinwohl erhalten, pflegen, voranbringen und uns bewusst machen, worauf das fußt. Nämlich auf Menschen, die das jeden Tag leben. Und mit Verlaub nochmal: Die sind nicht alle tot, sondern Millionen Menschen machen das heute noch täglich!! Man darf sich gerne irgendwo anschließen, statt heute Abend zu schimpfen. Genug geschimpft. Also: Gaudeamus igitur!

Jeff S. Klotz ist Autor und Verleger aus Bauschlott. Er ist vielfältig in kirchlichen und kulturellen Institutionen engagiert und Kunstsammler.

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